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Daten müssen gebändigt werden: Javiera Atenas im Interview

Kruse, Fabian [Fabian] - 16. Oct 2018, 13:41

In ihrer Abschlusskeynote auf der Internationalen ILIAS-Konferenz in Luzern zeichnete Javiera Atenas (Open Education Working Group, London) ein finsteres Bild von Datensammlern und -händlern im Bildungsbereich. Wir unterhielten uns mit ihr über Daten-Inkompetenz, faire Metriken und das Recht auf Vergessen.

Für eine Datenspezialistin bist Du sehr kritisch, was das Tracking und die Speicherung von Bildungsdaten angeht. Wie kommt das?

Ich möchte, dass die Menschen mehr darauf achten, warum sie Daten sammeln. Denn Daten sind nicht die Lösung aller Probleme, wie uns viele Technologiebegeisterte glauben machen wollen.

Die Frage ist, was Daten wirklich wert sind. Als Menschen sind wir keine Motoren oder Maschinen. Es macht also schon mal keinen Sinn, unsere reine Leistungsfähigkeit zu messen. Wenn Prozesse in Daten umgewandelt werden, werden sie vereinfacht und in entsprechende Kategorien gepackt. Das klappt nicht gut mit Menschen.

In unserer datenverrückten Gesellschaft können wir außerdem einen Effekt beobachten, den meine Soziologenfreunde „poorology“ nennen: Reiche Menschen werden selten untersucht oder bestraft. Stattdessen sammeln wir Daten von armen Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund - weil wir diese als Problem wahrnehmen. Im Ergebnis pervertieren Politiker Daten, um einen Diskurs über Menschen zu führen.

Und das wird noch schlimmer, wenn Du Dir nicht bewusst darüber bist, welche Daten überhaupt erhoben werden.

Genau. Du bist Dir dessen nicht bewusst, weil Du nicht datenkompetent und nicht informationskompetent bist. Es gibt Dir eine besondere Handlungsfähigkeit, wenn Du mit Daten umgehen kannst. Aber wenn Du Daten nicht verstehst, wirst Du schnell selber zum Untersuchungsgegenstand. Das ist nicht fair!

Es ist außerdem eine Frage der Partizipation. Wenn wir uns die Politik anschauen, gibt es dort viel Intransparenz in diesen Fragen. Unsere Regierungen sprechen von Partizipation und Transparenz, aber wie wollen sie Partizipation ermöglichen, wenn die Bürger nicht datenkompetent sind?

Wo würdest Du damit beginnen, Daten- und Informationskompetenz zu verbessern?

Im frühen Alter! Ich denke nicht, dass Schulen jedes einzelne gesellschaftliche Problem angehen müssen. Aber mit Daten und Informationen umgehen zu lernen, ist nicht einfach ein Schulfach neben anderen - es ist ein essentieller Teil der staatsbürgerlichen Bildung.

Wenn Du Geschichte unterrichtest, siehst Du Dir zum Beispiel demographische Daten an, Migrationsströme und so weiter. Warum sind Deutsche im 19. Jahrhundert nach Chile ausgewandert? Was steckt dahinter? Du schaust immer auf die Daten. Und Du bringst Deinen Schülerinnen bei, diese Daten zu verstehen. Das gleiche kann im Biologieunterricht passieren. Datenkompetenz ist sogar in Religion und Sprachkursen hilfreich. Wenn Du die Daten aber ignorierst und sie nicht im Unterricht behandelst, wirst Du Deine Schüler nicht zu datenkompetenten Menschen machen.

Big Data ist ein Trend. Software-Firmen, Arbeitgeber und sogar Schulen sind versucht, so viele Daten wie möglich zu sammeln - und erst hinterher darüber nachzudenken, was sie damit anfangen sollen. Brauchen wir mehr Kontrolle darüber, welche Daten überhaupt gesammelt werden?

Ja. Zunächst einmal sollten wir in den Schulen nicht auf den familiären Hintergrund eines Kindes schauen. Denn das ist unfassbar übergriffig. Die meisten Eltern geben ihr Bestes, um ihren Kindern gute Chancen im Leben zu verschaffen. Aber wenn wir die Kinder auf ihren wirtschaftlichen Hintergrund reduzieren, sehen wir diese Mühen nicht. Das ist schädlich.

Als weiße Menschen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund haben wir unglaubliches Glück. Aber wenn Du in eine anderee Situation hineingeboren wirst, sieht es gleich ganz anders aus. Um Dir ein Beispiel zu nennen: Die chilenischen Personalausweise geben an, wo Du geboren wurdest. Dies scheint kein großes Problem zu sein, aber was ist, wenn Du im Gefängnis geboren wurdest? Dies ist ein Beispiel für „poorology“ - wenn Du niemanden kennst, der im Gefängnis geboren wurde, bist Du Dir nicht einmal des Problems bewusst.

Welche Daten sollten wir also sammeln?

Es kommt drauf an. Hier ist ein Experiment, das ein Freund von mir erdacht hat: Was würde passieren, wenn Du ein Porträt aus den Daten schaffst, die Du über jemanden gesammelt hast? Wie würde es aussehen? Wäre die dargestellte Person erfreut darüber? Würde sie es mit nach Hause nehmen und es ausstellen wollen? Oder würde sie es unter ihrem Bett verstecken, damit es niemand sieht? Du willst schließlich nicht hässlich aussehen auf Deinem Porträt!

Aber es ist doch ein Unterschied, ob Daten über mich gesammelt werden, von denen ich nichts weiß oder deren Sammlung ich aus guten Gründen ablehne, und der legitimen Sammlung von Daten, die mich nicht in einem positiven Licht darstellen…

Das stimmt. Die nächste Frage ist dann aber: Wer hat Zugriff auf diese Daten? Nehmen wir mal an, Du hättest als Kind viel Blödsinn gemacht. Du warst der Klassenclown. Vielleicht hast Du trotzdem ganz gute Noten bekommen, aber Dein Verhalten könnte dennoch in sehr negativen Daten resultieren. Und wenn diese Daten an Deine weiterführende Schule gegeben werden, steckt sie Dich in eine bestimmte Kategorie. Diese Kategorie ist jedoch möglicherweise keine faire Art, Dich zu porträtieren.

Du solltest das Recht haben, mit einer weißen Leinwand neu anzufangen! Denk mal an Kriminalität: Du magst eine Gefängnisstrafe bekommen. Aber nachdem Du die Strafe abgesessen hast, kannst Du neu beginnen. Dein Strafregister wird getilgt und Du kannst weiterleben. Mit angefallenen Daten geschieht so etwas nicht. Du kannst Dein Datenregister nicht einfach tilgen lassen.

Stell Dir mal vor, nach dem Ende einer Beziehung dürfte Dich Dein Ex-Partner bewerten und diese Daten an mögliche neue Partner weitergeben. Das ist doch lächerlich. Aber dies ist genau das, was heutzutage mit Angestelltendaten geschieht.

Also forderst Du ein Recht auf Vergessen?

Für Google haben wir sowas schon. Warum gibt es das nicht für Sozialdaten, die von Schulen oder Behörden gesammelt werden?

Lass uns mal das Thema E-Learning betrachten. Es gibt einen Trend in der kommerziellen LMS-Welt, so viele Benutzerinteraktionen wie möglich zu aufzuzeichnen…

Das ist genau das Schlüsselwort: Interaktion. Ich interagiere eine Menge mit Netflix. Lerne ich was dabei?

Naja, das wäre sicherlich denkbar!

Nö. Ich stöbere nur. Das ist bedeutungslos.

Möchtest Du also bessere Metriken in der Bildung oder weniger Metriken?

Faire Metriken. Das bedeutet, dass Du mit weißer Weste neu anfangen darfst, wenn Du auf die Universität kommst. Keine Schuldaten sollten genutzt werden.

Aber dann gibt es Software wie Turnitin. Dieses Programm evaluiert angeblich den Schreibstil einer Studentin und meldet vermeintliche Fortschritte, die „unnatürlich“ erscheinen. Wenn Deine Universität diese Software benutzt, bräuchtest Du nach einem Jahr wieder eine weiße Weste. Und danach wieder. Und wieder. Welche Daten darf die Universität dann überhaupt speichern?

Darüber kann man sicher diskutieren. Aber egal, welche Daten gesammelt werden, sie sollten gelöscht werden, wenn Du die Universität verlässt. Denn wenn das nicht geschieht, weißt Du nie, wo diese Daten wieder auftauchen. Wenn Du also die Uni abschließt, bekommst Du ein Diplom und Deine Noten - und das war’s. Keine weiteren Daten werden benötigt. Ich würde sicherlich nicht wollen, dass Turnitin meine Daten an potentielle Arbeitgeber verkauft.

Einige Anwender sind interessiert daran, bessere Learning Analytics in ILIAS zu bekommen. Was wäre Dein Vorschlag, um Datenmissbrauch frühzeitig in der Entwicklung zu verhindern?

Schafft ein Organ zur Datenaufsicht, das sich die Anforderungen Eures Kunden anschaut. Es ist ganz klar, dass wir alle Geld verdienen müssen und es unterschiedliche Anforderungen gibt, wenn es ums Datensammeln geht. Aber bringt Eure Datenaufsicht mit zum Kunden. Versucht, eine Position zu schaffen, die sich um Datenschutz und Daten-Management kümmert, um sicherzustellen, dass nach einem Jobwechsel keine Informationen an potentielle neue Arbeitgeber weitergegeben werden.

Dies sollte auch dann so sein, wenn eine Person entlassen wurde. Solange es kein kriminelles Fehlverhalten gab, sollte niemand außerhalb der Firma informiert werden. Betrachte es mal so: Wenn ich rausgeschmissen werde und mein Ex-Boss seine Version der Geschichte öffentlich verbreitet, kann ich ihn wegen übler Nachrede verklagen. Aber wenn mein Boss Daten verbreitet, von denen ich nichts weiß, kann er mich darüber auf eine sehr negative Weise darstellen - obwohl dies nur ein Teil der Wahrheit ist. Dies könnte aber meine zukünftigen Anstellungs- und Verdienstaussichten schmälern.

Berufliche Daten werden bereits von US-Unternehmen genutzt, um Leute anzustellen. Schwarze, Muslime und Frauen werden dadurch tendenziell benachteiligt, weil ihre Leistungen nach diesen Daten nicht so gut sind. Wie kommt das? Kann es sein, dass eine Frau einfach nicht so viel leistet, weil sie schwanger wird oder sich mal zuhause um ihr Baby kümmern muss?

Natürlich will eine Firma immer Daten sammeln. Aber die Angestellten sollten darüber Bescheid wissen. Es muss zudem Konsequenzen geben, wenn die Daten schlecht verwaltet werden. Angestellte sollten dann in der Lage sein, ihre Arbeitgeber zu verklagen.

Wir müssen uns bewusst sein, dass Daten wild werden können. Sie sind keine böse Bestie, aber sie müssen gebändigt werden!

Ist das nicht eine ideoloigische Debatte?

Ja, ist es: Neoliberalismus gegen Humanismus.

Und wenn der Humanismus aktuell in der Defensive ist, willst Du Bewusstsein schaffen für das, was passiert?

Bewusstsein schaffen und Grenzen setzen. Ich will nicht, dass mein Arbeitgeber meine Daten nach 17:00 Uhr überwacht. Ich will nicht, dass meine Universität einen Ausweis entwickelt, der meine Bewegungen aufzeichnet. Es gibt Grenzen. Überschreitet sie nicht!

Letztendlich können Zahlen verdreht werden, bis sie Dir das Ergebnis geben, das Du haben willst. Darum sind Ethik und Philosophie so wichtig. Und wenn wir den Menschen nicht beibringen, ihre Daten zu managen und Daten auszuwerten, werden sie manipuliert werden.

Javiera, vielen Dank für dieses Interview!


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